…zur Atemerleichterung und Veränderung der Atembewegung
Viele Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen kennen die Anwendung der Atemtherapie bzw. Atemphysiotherapie, die unter anderem der Atemerleichterung und der bewussten Atemwahrnehmung dient, wie z. B. durch das Erlernen von atemerleichternden Stellungen, der Mobilisierung und Kräftigung des Brustkorbs durch Lungensport und Training an Geräten oder auch der Sekretolyse (Lösung von Sekret in den Bronchien) durch spezielle Übungen sowie durch den Einsatz von Hilfsmitteln.
Was unter einer reflektorischen Atemtherapie (RAT) zu verstehen ist und wo die Unterschiede bzw. Ergänzungen zur Atemphysiotherapie liegen, erfahren wir im Gespräch mit Bettina Bickel, München, Atemphysiotherapeutin, Krankengymnastin, Lehrtherapeutin der reflektorischen Atemtherapie und Autorin des überarbeiteten Standardwerkes für reflektorische Atemtherapie.
Historie
Ursprünglich entwickelt wurde die reflektorische Atemtherapie als sog. „Atemheilkunst“ von Dr. Johannes Ludwig Schmitt, der in München in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als niedergelassener praktischer Arzt tätig war. Krankengymnastin Liselotte Brüne kam, zunächst selbst als Patientin, erstmals in der Naturheilklinik von Dr. Schmitt mit der Atemmassage und den speziellen Yogaübungen in Kontakt.
Später wurde sie freie Mitarbeiterin in der Klink, gründete im Folgenden ihre eigene Praxis als niedergelassene Krankengymnastin und entwickelte diese spezielle Form der „Atemmassage“ maßgeblich weiter.
Der besondere Verdienst von Liselotte Brüne war, der Anwendung dieser Techniken eine Struktur mit ganzheitlichem Ansatz zu geben und sie in die Physiotherapie einzubringen.
Was gilt es bei chronischen Lungenerkrankungen zunächst zu verstehen?
Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass Veränderungen an der Lunge bzw. am Lungengewebe, wie diese beispielsweise aufgrund einer chronischen Erkrankung, wie COPD, Lungenemphysem etc., auftreten, nicht nur die Lunge selbst betreffen. Allzu oft wird die bestehende Problematik an der Lunge völlig isoliert betrachtet, ohne deren Auswirkungen und Einflüsse auch auf andere Körpersysteme wie z. B. das System der inneren Organe, das System des knöchernen Bewegungsapparates, das System der Muskulatur, der Faszien, der Durchblutung usw. zu berücksichtigten.
Ein Beispiel: Wird die Lunge aufgrund der Zerstörung von Lungengewebe, wie z. B. bei einem Lungenemphysem, schlechter durchblutet, verschlechtert sich auch die Durchblutung des gesamten Körpers.
Veränderungen am Lungengewebe sollten niemals nur auf die Lunge isoliert betrachtet werden.
Welche Behandlungsmethoden werden bei der RAT angewendet?
Die reflektorische Atemtherapie setzt sich sowohl aus aktiven wie auch aus passiven Komponenten zusammen. Passive Elemente sind die Wärmebehandlung und verschiedene manuelle, d.h. durch die Hände des Therapeuten, ausgeführte Handgriffe und Mobilisationstechniken. Aktiv hingegen, d.h. vom Patienten auszuführen, sind Atemgymnastik bzw. Yogaübungen – zunächst unter Anleitung des Therapeuten, im Weiteren als Ergänzung der RAT-Anwendungen auch eigenständig zu Hause.
Wofür steht der Begriff „reflektorisch“?
Überall in unserem Körper finden sich Zonen, die reflektorisch arbeiten. Über das Setzen von Reizen werden sog. Reflexbögen aktiviert. Als Reflexbogen wird der Weg, den ein Reiz vom Auslöser bis zum reagierenden Organ nimmt, bezeichnet.
Ein klassisches Beispiel, das wir alle kennen, verdeutlicht den reflektorischen Mechanismus: (siehe Abbildung Kniesehnenreflex). Ein Schlag auf die Kniesehne unterhalb der Kniescheibe ausgeführt, dehnt ruckartig die Unterschenkelstrecker-Muskulatur, was einen Nervenreiz über das Rückenmark zum Gehirn auslöst und rückführend die Reaktion des Vorschnellens des Unterschenkels bewirkt – ohne bewusstes Handeln des Betroffenen.
Die reflektorische Atemtherapie basiert also auf der Stimulierung von reflektorischen Reizen durch gezielte Druckverschiebungen in Haut und Muskeln sowie durch Schmerzreize unterschiedlicher Dosierung, sodass z. B. Atemreflexbögen in Form einer Atemerweiterung, einer Atemvertiefung oder einem Hustenstoß aktiviert werden. Mittels RAT kann die Zwerchfellbewegung sowohl stimuliert als auch gekräftigt werden – Voraussetzungen für eine optimale Form des Atembewegungsablaufes. Die manuelle Reizsetzung führt zu einer bewusst wahrnehmbaren Atembewegung bzw. Atemveränderung.
Die reflektorische Atemtherapie basiert auf der Stimulierung von reflektorischen Reizen, die zu einer Veränderung der Atembewegung führen.
Wie verläuft in der Regel eine Behandlungseinheit der RAT?
Eine Behandlung erfolgt immer absolut individuell. Jeder Patient hat eine ganz eigene Erkrankungssituation und einen körperlichen Status. Während der ersten Therapiestunde sind daher ein Anamnesegespräch und Erläuterungen der Therapiemaßnahmen wichtig. Der Therapeut macht sich zunächst ein Bild vom Atemablauf des Patienten, d.h., er stellt fest wie der Patient atmet und ebenso wie sich die Atmung innerhalb des Behandlungsverlaufs verändert.
Mit einer heißen Rolle, meistens auf dem Rücken und manchmal auch auf der Vorderseite der Rippen, beginnt die RAT. Diese Maßnahme ist durchblutungsfördernd, lockert die Muskulatur, löst das Sekret und ist somit eine optimale Vorbereitung für die anschließenden manuellen Techniken. Die heiße Rolle wird von Patienten als überaus angenehm empfunden.
Kann der Patient auf dem Bauch liegen, wird manuell zunächst dorsal (den Rücken betreffend) und dann ventral (den Bauch betreffend) gearbeitet. Kann der Patient nicht auf dem Bauch liegen, beginnt die Therapie zunächst in sitzender Position oder in der Seitenlage. Soweit möglich erfolgt eine körperliche Rundumbehandlung, d.h. der Therapeut arbeitet auf der Vorderseite, seitlich an den Flanken, an den Beinen, den Armen, im Gesicht und ebenso an den großen Übergängen aller Gelenke. Selbst über die Fußreflexzonen ist es möglich, das Zwerchfell zu stimulieren.
Gewisse Grifftechniken können am Anfang der RAT mit Schmerz verbunden sein, wenn die Muskulatur, die Faszien hart und verspannt sind. Im Verlauf der Therapie lockert sich das Gewebe und auch die Atembewegungen ändern sich und werden tiefer. Eine Therapiestunde der RAT wird allerdings durchaus als anstrengend empfunden.
Gemeinsam mit dem Patienten wird angesichts seiner individuellen Situation ein Konzept entwickelt, welche Übungen (Yogaübungen) zu Hause fortzuführen sind, damit die durch die RAT erreichten Effekte möglichst kontinuierlich aufrecht erhalten werden. In der Regel handelt es sich dabei um ca. sechs Übungen, die möglichst täglich, je nach individueller Tagesform, durchzuführen sind.
Ergänzt werden sollten die Übungen möglichst mit weiteren täglichen körperlichen Aktivitäten und einer Teilnahme am Lungensport. Die Erfahrung zeigt, dass Patienten schnell spüren, dass es ihnen durch die Kombination aus RAT und täglicher Bewegung zu Hause deutlich besser geht: beste Voraussetzung für eine konsequente Umsetzung.
Dr. Johannes Ludwig Schmitt legte großen Wert auf die optimale Beweglichkeit der Wirbelsäule als „Transporteur der Atembewegung“. Warum ist die Mobilität der Wirbelsäule im Hinblick auf die Atmung wichtig?
Das Zwerchfell (Diaphragma), der wichtigste Atemmuskel, hat zwei Schenkel, die auch an der Lendenwirbelsäule angewachsen sind. Ist die Wirbelsäule nicht mehr flexibel, beispielsweise, weil man sich zu wenig bewegt, oder durch das Vorliegen eines orthopädischen Befundes wie z. B. einen Rundrücken, wirkt sich dies auch auf die Atmung aus. Ebenso findet sich der umgekehrte Effekt, dass ein belasteter Atemmuskel Auswirkungen auf die Beweglichkeit der Wirbelsäule hat.
Eine flexible, bewegliche Wirbelsäule fördert die Atembewegung.
Welche Bedeutung hat das Zwerchfell auch für andere Organe als die Lunge?
Das Zwerchfell kann man sich als einen riesigen kontrahierenden Muskel mit einer Kuppel vorstellen, der immer einen gewissen Tonus, d.h. eine gewisse Grundspannung aufweist. Im Prinzip wird der Körper durch das Zwerchfell in zwei Hälften geteilt: die obere Hälfte, den „Brustraum“ mit Lunge, Bronchien, Herzen etc. und die untere Hälfte, den „Bauchraum“ mit den inneren Organen, wie z. B. Magen, Bauchspeicheldrüse, Leber, Darm.
Senkt sich das Zwerchfell in der Einatemphase, werden dabei die Organe im Bauchraum komprimiert. Beim Ausatmen hingegen entspannt sich das Zwerchfell, geht wieder zurück nach oben in Richtung Lungenraum und entlastet den Bauchraum. Das Zwerchfell agiert dabei ähnlich wie eine Pumpe.
Die Pumpfunktion des Zwerchfells dient jedoch nicht nur der ausreichenden Weitung des Brustkorbs und der Lunge sowie der Verstärkung des Unterdrucks für eine ausreichende Einatmung, sie übt ebenso eine Wirkung auf die Peristaltik des Darms, die Durchblutung der Organe, die Muskulatur und viele weitere Systeme aus.
Die Pumpfunktion des Zwerchfells beeinflusst weit mehr als nur die Atmung.
Kann das Zwerchfell nicht mehr richtig arbeiten, beispielsweise aufgrund einer Überlastung, bedingt durch ein Lungenemphysem (einer Zerstörung der Lungenbläschen mit einhergehender Lungenüberblähung) oder anderer Ursachen, wird verständlich, dass sich dessen Auswirkungen nicht nur auf die Atmung beziehen.
Dr. Johannes Ludwig Schmitt, Urvater der RAT, pflegte gerne beispielhaft zu formulieren: „Auch der Leber fällt es deutlicher leichter, Blut abzugeben und anzusaugen, wenn das Zwerchfell gut funktioniert.“
Diese Erläuterung macht verständlich, dass Patienten mit einem Lungenemphysem deutlich mehr Beschwerden (wie z. B. Muskelschmerzen, Müdigkeit, aber auch Blähungen etc.) aufweisen als die klassischen Symptome wie Husten, Atemnot und Auswurf.
Welche Ziele werden mit der RAT bei Lungenerkrankungen angestrebt?
Über die manuellen Handgriffe und Reizsetzungen und daraus folgenden verstärkten Atembewegung können alle Systeme des Körpers sowie viele Aspekte des Krankheitsgeschehens beeinflusst werden. Mit der RAT wird ein ganzheitlicher therapeutischer Ansatz verfolgt.
Die Behandlungsziele der RAT bei Erkrankungen der Atmungssysteme umfassen die Durchblutungsförderung und Spannungsregulation (Tonus) der Atem- und Atemhilfsmuskulatur, die Verbesserung der Brustkorbmobilität, die Regulation der Atembewegung, der Atemfrequenz sowie der Atemvolumnia.
Ebenso stehen die Beeinflussung des kardialen Systems, die Durchblutungsförderung und Spannungsregulation der Rumpf- und Extremitätenmuskulatur, des Gewebes sowie die Mobilisierung der Gelenke im Fokus. RAT hat zudem positiven Einfluss auf das vegetative Nervensystem, das allgemeine psychische Befinden und das Immunsystem.
Die reflektorische Atemtherapie verfolgt therapeutisch einen ganzheitlichen Ansatz.
Was sollten Patienten hinsichtlich der Verordnung von RAT wissen?
Ein schwieriges Thema. Während meiner ganzen beruflichen Laufbahn wurde kontinuierlich versucht, eine eigene Abrechnungsposition für RAT zu erwirken, was nicht gelungen ist.
Viele Atemphysiotherapiepraxen rechnen RAT über die Mukoviszidose-Therapie (Mukoviszidose-ähnliche Symptome) mit dem Vergütungsschlüssel AT3a + heiße Rolle der Heilmittelverordnung ab. Derzeit ist dies die einzige Möglichkeit der Kostenerstattung über die gesetzliche Krankenversicherung. Eine Behandlung sollte 60 Minuten umfassen. Im Regelfall werden 10 x 60 Minuten verordnet.
Zusätzlich sollten Patienten wissen, dass jedes Bundesland die Verordnung von RAT unterschiedlich handhabt.
Der Verband für Reflektorische Atemtherapie ist bestrebt, die Bedeutung der RAT, die es den Patienten ermöglicht, mobiler zu werden, stärker in die Öffentlichkeit zu transportieren und auch den Krankenkassen zu verdeutlichen, dass letztendlich die Gesamtkosten für Patienten durch die Anwendung von RAT reduziert werden könnten.
Auf Seiten der Patienten, die RAT-Anwendungen erhalten, bemerken wir inzwischen einen deutlichen Wandel. Diese Patienten, die von den positiven Effekten der RAT profitieren, sie bereits spürbar erfahren, sind durchaus bereit, eine Zuzahlung zu leisten. Nur leider ist nicht jeder Patient in der Lage, die Kosten selbst zu tragen.
Als Download finden Sie nachfolgend einige Übungen von Undine von der Werth, die zu Hause Anwendung finden können – Auszug des Buches Reflektorische Atemtherapie.
Hinweis: Verordnungsbeispiele für Atemphysiotherapie und Physiotherapie – Heilmittelverordnung 13 finden Sie als Flyer bei der Deutschen Atemwegsliga e.V.
Siehe www.atemwegsliga.de – Button Medien – nicht-medikamentöse Therapie
Buchtipp
Liselotte Brüne, Bettina Bickel
Reflektorische Atemtherapie
Dritte überarbeitete Neuauflage 2018
Das Standardwerk der reflektorischen Atemtherapie von Lieselotte Brüne wurde in einer Neuauflage von Bettina Bickel und weiteren erfahrenen Lehrtherapeuten der reflektorischen Atemtherapie grundlegend überarbeitet und erweitert.
Das 156-seitige Buch mit über 100 Abbildungen richtet sich an Physiotherapeuten, Patienten und Ärzte.
ISBN 9-783-7905-1064-5, Pflaum Verlag
Bestellmöglichkeit mit Leseprobe siehe https://buecher.pflaum.de/buecher/physiotherapie/
Auszug Gleitwort
Professor Dr. Klaus Kenn, Schönau
Das Buch stellt eine aktualisierte und umfassende Zusammenstellung verschiedener Anwendungsmöglichkeiten der reflektorischen Atemtherapie dar. Den Autoren ist es dabei gelungen, durch praxisnahe Anleitungen das breite Indikationsspektrum dieser schon vor mehr als 50 Jahren entwickelten Therapieform in einladender, verständlicher Form aufzuzeigen. Dabei handelt es sich um das spezifische Zusammenwirken der physikalischen Vorbereitung des Körpergewebes durch Wärme mit den strukturell wirkenden Grifftechniken sowie der dosierten Nutzung von Triggerpunkten.
In den vergangenen Jahren hat diese spezielle Form der Atemtherapie, die reflektorische Atemtherapie, noch nicht den ihr gebührenden Stellenwert in der Therapie erlangt. Dies mag daran liegen, dass ihr in der Ausbildung der Physiotherapeuten oft nur eine begrenzte Bedeutung beigemessen wird.
Darüber hinaus ist den meisten potenziellen Verordnern, also uns Ärzten, diese Behandlungsform noch immer wenig oder gar nicht bekannt. Ich selbst gehörte einst zu diesen Unwissenden bzw. Ungläubigen. Zunächst waren es immer wieder beeindruckende Schilderungen von Patienten z. B. mit weit fortgeschrittenem Lungenemphysem, die über ein unbekanntes Ausmaß befreiter Atmung nach einer kompetenten reflektorischen Atemtherapie berichteten. Diese Effekte übertrafen im Einzelfall deutlich die Linderung, die durch medikamentöse Therapien zu erzielen war. Zum Anhänger und Verfechter dieser Therapieform wurde ich dann nach eigenem Erleben der hierdurch erzielbaren Effekte selbst bei einem Gesunden.
Der Verein
Therapeuten finden
Der Verein Reflektorische Atemtherapie mit Sitz in Berlin fördert die Bekanntheit sowie die Akzeptanz der RAT als physiotherapeutische Behandlungsmethode, bildet Physiotherapeut/Innen in der reflektorischen Atemtherapie aus und regelt die Ausbildung der Lehrtherapeuten.
Eine bundesweite Therapeutenliste finden Sie auf
www.reflektorische-atemtherapie.de.
Telefonische Kontaktaufnahme über die Hotline 0174-3894353, MO.-DO. 13.00-18.00 Uhr.
Bildnachweise:
Bettina Bickel, München
Khorzhevska, Werner, Waldemar Hölzer, magicmine – Fotolia.com
Pflaum Verlag
Interview/Text:
Sabine Habicht, Redaktionsleitung Patienten-Bibliothek
Der Beitrag wurde in der Herbstausgabe 2019 der Patienten-Bibliothek – Atemwege und Lunge veröffentlicht.