Atem des Lebens – Leben des Atems

Ein interdisziplinäres Projekt

Als Anfang des Jahres die Themenliste für die Rubrik „Psychopneumologie“ erstellt wurde, war das SARS-CoV-2-Virus bereits am östlichen Horizont aufgetaucht. Nicht absehbar war zu diesen Zeitpunkt, welche Bedeutung die Themen „Atem“ und „Atmung“ im Laufe der sich rasant entwickelnden Coronapandemie erlangen sollten. „Atemnot“ und „Lungen-Krankheit“ wurden zu Top-Suchbegriffen im Internet. In diesem historischen Zusammenhang erscheint das Motto des Projektes „Life of Breath“ (= Leben des Atems) wie ein Menetekel. Es lautet: „Atemnot ist mehr als ein medizinisches Symptom.“

Was steckt hinter dem Projekt?

Von 2014 bis 2019 befassten sich Experten aus Medizin, Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften, Kunst, Geschichte und Theologie im Rahmen eines breit angelegten britischen Projektes mit dem Phänomen „Atemnot“. Hauptbeteiligte waren die Universitäten von Bristol und Durham und der Wellcome Trust.

Ein Faltblatt stellt das Projekt „Life of Breath“ anhand von zwei Lungenflügeln anschaulich dar:

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Atemnot ist mehr als ein medizinisches Symptom

Die Basis für dieses multidisziplinäre Projekt bildete die Erkenntnis: Atemnot ist mehr als ein medizinisches Symptom. Atemnot ist eine umfassende Erfahrung, die sich aus physiologischen und emotionalen Faktoren zusammensetzt und von Erwartungen und Überzeugungen geprägt wird. Betroffene erleben ihre Atemnot auf dem Hintergrund von vorausgegangenen Erfahrungen, die ihre Erwartungen formen. Diese Erwartungen prägen ihrerseits die gegenwärtigen und zukünftigen Erfahrungen.

Fazit: Atemnot kann nicht auf die körperlich-medizinischen Aspekte begrenzt werden. Die subjektive Atemnoterfahrung umfass und beeinflusst zahlreiche weitere Aspekte des Lebens. Das Projekt „Life of Breath“ untersucht deshalb die Bedeutung von Atemnot beispielsweise in den Bereichen Anthropologie, Gesundheitswissenschaften, Geschichte, Philosophie, Sozialwissenschaften, Kunst und benachbarten Disziplinen. Das Projekt entwickelt Vorschläge, wie die Studienergebnisse für einen ganzheitlichen Umgang mit Atemnot genutzt werden können.

Themenvielfalt

Der Wissenschafts-Blog des Projektes wurde im Jahr 2019 zu einem der Top-COPD-Blogs gewählt. Diese Einstufung wird verständlich, wenn man sich einige Beispielbeiträge aus dem Blog über ganz unterschiedliche Teilprojekte anschaut.

  1. 1. Portrait-Kunst als lebenserhaltende Maßnahme

Die Kunsttherapeutin Susan Carr arbeitet in einem Hospiz. Sei berichtet über die von ihr entwickelte „Portrait-Kunst“ mit Lungen-Patienten. Den Anstoß dazu gab die Bemerkung des COPD-Patienten Peter: „Nichts hat mehr Bedeutung, wenn Du nicht atmen kannst.“

Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen schilderten die Auswirkungen von Diagnose, Therapie und Krankheitsverlauf häufig als Verlust der Identität: „Ich weiß nicht mehr, wer ich eigentlich bin.“

Im Rahmen eines Promotions-Projektes entwickelte Susan Carr daraufhin die „Porträt-Kunst“. Das ist eine Intervention, um Betroffene die „Gesundheit in der Krankheit“ finden zu lassen. Die Intervention unterstützt Patienten dabei, ein Gespür für ihre Identität angesichts von Verlusten zu entwickeln.

Die Porträt-Serien entstehen im Austausch zwischen der Kunsttherapeutin und dem jeweiligen Patienten. Sie ermöglichen es den Betroffenen, ihre Verluste zu betrauern. Wie der Schriftsteller John Updike es ausdrückt: „Die Kunst bietet einen Raum – einen gewissen Atem-Raum für den Geist.“

  1. 2. Der Atem tanzt

Der Tänzer Daniel Martin lebt mit Asthma. Atemnot-Anfälle sind ihm vertraut. In seinem Angebot „Der Atem tanzt“ erkundet er mit den Workshop-Teilnehmern, wie sie ihren Atem in Bewegung nutzen. Mit Hilfe von Körper-Skulpturen erforscht er, welchen Einfluss Gefühle auf Körper und Atmung ausüben.

Gerade in Zeiten der Coronapandemie (aber auch sonst) ist das Unterstützungsangebot mit 7 Tanzanleitungen auf der Website von „Leben des Atems“ eine wertvolle Kraftquelle. Die frei zugänglichen Video-Anleitungen bieten ein umfassendes Programm vom Aufwärmen über Tänze im Sitzen und Stehen bis zum Abkühlen aus dem Repertoire von „Tanz einfach – atme besser“.   

  1. 3. Singen, um zu atmen

Die Stimmtrainerin und Musiktherapeutin Phoene Cave hat das Projekt „Der musikalische Atem“ entwickelt.

In ihrem Blog-Beitrag schildert sie u. a. ihre Arbeit mit Hunderten von Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen. Besonders berührt habe sie das Singen mit jüngeren Mukoviszidose-Patienten. Das Singen von „sehr dunklen Liedern“ erlaube diesen Patienten, ihre wahre Geschichte hinter der oftmals fröhlichen Fassade auszudrücken.

Auf ihrer eigenen Website bietet Phoene Cave einen Überblick über die Initiative „Singen für die Lungengesundheit“. Seit 2014 hat Phoene Cave rund 150 Gesangsgruppen-Leiter im Auftrag der Britischen Lungen-Stiftung ausgebildet. Sie betreuen ungefähr 100 Gesangs-Gruppen in Großbritannien.

Das Programm „Singen für die Lungengesundheit“ wurde nach wissenschaftlichen Kriterien evaluiert. Das Fazit der Studien-Auswertung und eines Konsensus-Berichtes lautet: Singen kann Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen körperlichen, psychischen und sozialen Nutzen bringen.

  1. 4. Warum ist Atemnot unsichtbar?

Mehrere Blog-Beiträge befassen sich mit der Frage, warum Atemnot unsichtbar ist. Die Beiträge sind Teil der Aktion „Kampf um den Atem“ der Britischen Lungen-Stiftung.

Eine der Studien-Leiterinnen von „Life of Breath“, Prof. Jane Macnaughton, weist in ihrem Blog-Beitrag darauf hin, dass Patienten ihre Atemnot häufig nicht erwähnen, weil sie denken, die Ursache liege am Alter, am Rauchen oder am Bewegungsmangel. Selbst nach einer Diagnose verschweigen Betroffene chronische Atemnot, falls sie keine angemessenen Antworten auf ihre Klagen erhalten haben.

Hoffnungsvoll blickt die Autorin deshalb auf die Untersuchungen, mit deren Hilfe sogar die Zusammenhänge zwischen Atemnot, Gedanken und Gefühlen auf Kernspin-Tomographien sichtbar gemacht werden können. In ihren Augen ist das ein Mosaikstein im „Kampf um den Atem“.

  1. 5. Brief an meine Lungen

In einem weiteren Beitrag befasst sich die Kunst-, Gesundheits- und Kommunikations-Expertin Elspeth Penny mit einem „Briefeschreiben-Projekt“ für Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen. „Mein lieber Atem“ lautet die Anrede – es folgen berührende Zeugnisse wie beispielsweise dieses:

„Mein lieber Atem, es war ein langer Lernprozess. Nach 85 Menschenjahren lerne ich gerade, loszulassen und Dich atmen zu lassen. Wir sind jetzt sehr vertraut…“

Das Projekt „Lieber Atem“ wurde 2019 in einer qualitativen Studie untersucht. Fazit der Studie: Die Ergebnisse beleuchten bisher vernachlässigte Bereiche eines Lebens mit Atemnot und eröffnen für Betroffene und Behandler neue Wege zum Umgang mit Atmen und Atemnot. (Im Artikel „Lieber Atem – Hilft Briefeschreiben bei Atemnot?“ auf der Website „Sauerstoff und Sinn“ wird dieses Projekt ausführlich gewürdigt.)

Noch andere faszinierende Beiträge finden sich auf dem Blog von „Leben des Atems“. Wer die englische Sprache (oder den Einsatz einer Übersetzungs-Software) beherrscht, kann sich selbst davon überzeugen.

Erkenntnisse und Empfehlungen

Das „Life of Breath“-Team wünscht einen Wandel zum Wohl der Patienten mit Atemnot

Die zahlreichen Akteure des Projektes begnügen sich nicht mit den beeindruckenden Erfahrungen und Ergebnissen. Die Studienleiter stellen in einem 2018 veröffentlichten Bericht ihr Fazit vor. Darin beschreiben sie die Voraussetzungen und Empfehlungen für einen notwendigen Wandel im wissenschaftlichen und praktischen Umgang mit Atemnot.

Die wichtigsten Erkenntnisse
  • Betroffene und Behandler unterschätzen die Bedeutung der komplexen Erfahrung „Atemnot“.
  • Scheinbar objektive Messinstrumente werden der komplexen Erfahrung „Atemnot“ nicht gerecht, falls sie die vielfältigen Ursachen und Auswirkungen einer eingeschränkten Lungenfunktion nicht abbilden.
  • Atemnot ist eine Empfindung, die alle Sinne (z. B. Bewegung, Berührung, Klang) betrifft. Diese Empfindung ist nicht nur ein physiologischer, sondern auch ein kulturgebundener Prozess. (Beispiel: Pateinten mit den gleichen Ergebnissen in der Lungenfunktions-Messung können unterschiedlichen Atemnot-Stress empfinden.)
  • Achtsamkeits- und körperbezogene Behandlungsformen beeinflussen die gefühls- und die empfindungsbezogene Wahrnehmung von Atemnot.
  • Ansätze, die Methoden aus Kunst und Bewegung einbeziehen, können die Atemnot-Aufmerksamkeit beeinflussen. Sei stärken zudem persönliche Ausdrucksfähigkeit und Gemeinsinn.
Die wichtigsten Empfehlungen

Hier denkt das „Life of Breath“-Team visionär. Die Vorschläge sind bestimmt von der Erkenntnis, daß Atemnot ein unterbelichtetes Thema bei Betroffenen und Behandlern ist.
Und von der Beobachtung, dass

  • viele Atemnotpatienten keinen Zugang zur Pneumologischen Rehabilitation haben – sei es aufgrund von äußeren oder inneren Barrieren
  • viele Atemnotpatienten keine Unterstützung im psycho-sozialen oder spirituellen Bereich erfahren
  • Atemnotpatienten nicht selten im Verlauf der Erkrankung isoliert oder unterversorgt sind
  • Behandler mehr Wissen und Schulung im Hinblick auf ganzheitliche Atemnotangebote benötigen

Änderungswünsche

Deshalb hält das Team von „Leben des Atems“ folgende Änderungen für unbedingt wünschenswert:

  • Ein ideales Atemnotangebot bietet Schulung und Unterstützung für Betroffene und Angehörige mit einem umfassenden Ansatz. Es ermutigt und befähigt sie zu einem Leben mit Atemnot jenseits eines rein biomedizinischen Verständnisses.
  • Pneumologische Rehabilitation (PR) ist eine der effektivsten Interventionen für Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen. PR sollte bei der Erfassung der individuellen Atemnoterfahrung größeres Augenmerk auf die emotionalen und verhaltensbezogenen Aspekte von Atemnot richten.
  • Eine ganzheitliche Pneumologische Rehabilitation sollte Angebote aus der Achtsamkeits-Praxis, aus Kunst und Kulturwissenschaften integrieren. Damit steigt die Chance auf eine geschärfte Aufmerksamkeit für die individuellen Empfindungen. (Im Artikel „Drängende Patientenbedürfnisse – Wie die Psychopneumologie wirksam zur Lösung beiträgt“ in der Frühjahrsausgabe der Patienten-Zeitschrift „Atemwege und Lunge“ wurde auf die mit Spannung erwartete TANDEM-Studie verwiesen. Ihr Forschungsansatz beruht zum Teil auf Ergebnissen des „Life of Breath“-Projektes.)
  • Statt des medizinischen Begriffes „Pneumologische Rehabilitation“ sollten weniger stigmatisierende Ausdrücke für Atemnotangebote verwendet werden. Hier appelliert das Team von „Leben des Atems“ an die Kreativität der Betroffenen.
  • Behandler sollten zu einem umfassenderen, kultursensiblen Verständnis von Atemnot angeleitet werden (vergleichbar dem Ansatz der multimodalen Schmerztherapie).
  • Besondere Beachtung bei der Entwicklung von Schulungsangeboten für Behandler sollten Zusammenhänge zwischen Atemnot, Stigma, selbsteinschränkendes Verhalten, Befürchtungen und Ängsten der Betroffenen finden.

Fazit: Zwei Erkenntnisse aus dem Abschlussbericht des „Life of Breath“-Projektes bestätigen den Ansatz der Psychopneumologie.

Erstens: Betroffene sind in der Regel Experten aus Erfahrung und sollten in alle Maßnahmen im Zusammenhang mit Atemnot angemessen einbezogen werden.

Zweitens: Psychologische und körperliche Aspekte der Atemnot sollten gleichwertige Aufmerksamkeit erfahren.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
in der Info-Box können Sie testen, wie ein erweiterter Ansatz bei Atemnot ganz persönlich auf Sie wirkt. Ich wünsche allen mutigen Briefeschreibern Freude an der Übung und überraschende Erkenntnisse und bin gespannt auf Ihre Rückmeldungen.

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Autorin: Monika Tempel
Ärztin, Autorin, Referentin
www.monikatempel.de
www.atemnot-info.de


Info-Box

„Mein lieber Atem“ – eine Anleitung zum Briefeschreiben (in Anlehnung an eine Übung von L. Rankin)

  • 1. Zur Ruhe kommen

Setze Dich einen Moment lang still hin und (wenn Du magst) schließ die Augen. Du kannst auch einen Punkt in Deiner Umgebung in den Blick nehmen und ruhig dort verweilen.

  • 2. Es atmen lassen

Spüre, wie die Luft in Deine Nasenlöcher ein- und ausströmt. Spüre, wie sich Deine Brust und Dein Bauch heben und senken.

  • 3. Auf die Empfindungen Deines Körpers achten

Ist da irgendwo ein Schmerz? Ein Kribbeln? Wärme? Kälte? Eine Blockade? Ein Gefühl von Enge oder von Offenheit?

  • 4. Den Körper fragen

Frage Deinen Körper, was er Dir mitteilen möchte. Lausche eine Weile. Welche Botschaften tauchen in Dir auf?

  • 5. Öffne Deine Augen und lass Dir von Deinem Atem einen Brief schreiben.

Drück Deinem Atem den Stift in die Hand und lass ihn einen Brief an Dich schreiben: „Liebe …, lieber … (bis zum Gruß) … Dein Atem“

  • 6. Schreibe einen Antwortbrief an Deinen Atem

Antworte auf das, was Dir Dein Atem mitgeteilt hat: „Mein lieber Atem, … (bis zum Gruß) … Deine …, Dein …“

  • 7. Führe diesen Dialog fort, solange Dein Atem Dir etwas zu sagen hat

Achte auf das, was in den Briefen zur Sprache kommt. Hör aufmerksam zu.

  • 8. Danke Deinem Atem für das, was er Dir mitgeteilt hat

Versprech Deinem Atem, in Zukunft öfter mit ihm in Verbindung zu sein.


…mehr Wissen

Ratgeber

Doris Dörries: Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben. Diogenes, 2019

Silke Heimes:  Kreatives und therapeutisches Schreiben: Ein Arbeitsbuch. Vandenhoeck & Ruprecht, 2015

James W. Pennebaker: Heilung durch Schreiben: Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe. Hogrefe, 2019

Fachartikel

Atem-Grenzen. Wie sich Raum und Zeit verändern, wenn das Atmen schwer fällt. In: Braun, Karl; Dieterich, Claus-Marco; Hengartner, Thomas; Tschofen, Bernhard: Kulturen der Sinne. Zugänge zur Sensualität der sozialen Welt. Würzburg 2017, S.183–190.


Text:
Monika Tempel, Regensburg

Bildnachweise:
Monika Tempel, Regensburg
nebari – AdobeStock

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Der Beitrag wurde in der Sommerausgabe 2020 der Patienten-Bibliothek – Atemwege und Lunge veröffentlicht.

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