…weit mehr als 1.000 Lungenflügel

Lungenflügel als Kunstverglasung

Betritt man die Heilig-Kreuz-Kirche in München Giesing durch eines der beiden hinteren Portale, sieht man in den bläulichen Gläsern der Chor- und Oratorienfenster musterartige Strukturen. Sind es weiße Federn auf blauem Grund? Fußspuren? Weiße Raben, einander zugeneigt?

Erst beim Näherkommen erkennt man hunderte Paare von Lungenflügeln. Keines gleicht dem anderen. Ausgangsmaterial waren weit über 1.000 Röntgenaufnahmen des Brustkorbs (Thorax).

Ausschlaggebend für meinen Entwurf war die gobelinartige Bemalung der Wand im unteren Teil des Chors. Dieses Muster wollte ich an den Fenstern weiterführen und in die Höhe bringen, aber nicht mehr als immer gleichbleibendes Motiv, sondern in individueller Veränderung. So kam ich auf die Idee, Röntgenbilder des menschlichen Thorax seriell in den Fenstern aufsteigen zu lassen. Durch die Aneinanderreihung hunderter Lungenflügel werden die Unterschiede der menschlichen Anatomie erfahrbar. Jeder Thorax ist anders, jeder Mensch ist einzigartig. Jeder Mensch ist einzigartig vor Gott. Und alles Äußerliche, wie z. B. die Hautfarbe, ist nicht mehr erkennbar.

Zu sehen sind „nur“ die wesentlichen Organe: die Lunge und das Herz

Lungenflügel haben eine gotische Form. In den Fenstern wirken sie wie Flügelpaare und korrespondieren mit den Engelsflügeln im Hochaltar. Da die Thoraxaufnahmen invertiert (ein Verfahren zur Umkehr der Farben) und mit blauer Farbe auf hellblau gefärbtes Glas gedruckt (Siebdruck) und gebrannt wurden, ist die Anmutung schwebend, leicht, durchlässig, fast immateriell.

Gemeindemitglieder der Pfarrei haben Röntgenbilder für die neuen Fenster gestiftet, diese sind nun stellvertretend für sie in der Kirche. Die Stifter sind, wie nach alter Tradition, in ihren Kirchenfenstern verewigt – nur, dass hier jeder ein Stifter sein konnte und nicht vermögend sein musste. Ein demokratisches Stifterfenster also. Das Motiv wird hier zum Votivbild.

Leid und Vergänglichkeit spielen ebenso eine Rolle wie Atmung und Leben

Wilhelm Conrad Röntgen entdeckte die nach ihm benannten Strahlen 1895, neun Jahre nach der Weihe der Heilig-Kreuz-Kirche. Auch historisch gesehen, passt diese Technik also zur Kirche.

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Die neuen Fenster der Heilig-Kreuz-Kirche wirken nicht nur im Innenraum, sondern auch in der Außenansicht. Sie passen sich in ihrer Helligkeit den weiß mattierten Fenstern im Kirchenschiff an. Je nach Sonnenstand, Jahreszeit und Wetter verändern sie ihre Anmutung. Während der Gottesdienste bilden sie das Pendant zur Gemeinde.

Lichtbilder, nach oben schwebend, Engelsflügeln gleich


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Christoph Brech
Künstler, München
www.christophbrech.com

Die Fertigstellung der neuen Kunstverglasung von Christoph Brech wurde am 20. Oktober 2019 mit einem Festgottesdienst und einem Künstlergespräch über die Kirchenfenster verbunden.

Die Pfarrkirche Heilig-Kreuz ist täglich zwischen 09.00-19.00 Uhr geöffnet. Über eine Rampe am nördlichen Eingang ist sie barrierefrei zugänglich. Bitte beachten Sie die Gottesdienstzeiten. Gruppenführungen können über das Katholische Pfarramt angefragt werden.

Pfarrkirche Heilig-Kreuz, Ichostraße 1, 81541 München
Telefon 089 – 6936588-0
kontakt@hl-kreuz-giesing.de
www.hl-kreuz-giesing.de


Bildnachweis:
Christoph Brech – Barbara Klemm
Pulfer Photografie, München

Text:
Christoph Brech, München


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Der Beitrag wurde in der Winterausgabe 2019 der Patienten-Bibliothek – Atemwege und Lunge veröffentlicht.

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