Wechsel der Perspektive

Risikofaktoren und Schutzfaktoren

Im Hinblick auf das Coronavirus gelten Patienten mit einer chronischen Lungenerkrankung als gefährdeter im Vergleich zu Lungengesunden.

Ausdrücklich zu empfehlen ist daher die Beachtung aller Hinweise der zuständigen medizinischen Experten und Behörden für den Schutz besonders gefährdeter Personengruppen!  Verhalten Sie sich stets umsichtig.

Nur wenn Sie die Vorsichtsmaßnamen akzeptieren und umsetzen, haben Sie bei einer Betrachtung der „Corona-Krise“ von einem psychosomatischen Blickwinkel aus die Chance, mit einem Perspektivwechsel  „doppelt geschützt“ durch die „Corona-Zeit“ zu kommen.

Wie kann der erlernte Umgang mit einer chronischen Erkrankung zum Vorteil werden?

Um diesen nicht auf Anhieb verständlichen Ansatz nachzuvollziehen, lohnt es sich, den Blick weg von den Risikofaktoren hin zu den Schutzfaktoren zu lenken. Denn Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen haben im Hinblick auf Schutzfaktoren möglicherweise entscheidende Vorteile gegenüber Lungengesunden.

Schutzfaktor 1: Ganzheitliches Krankheitskonzept

Im Erleben von Krankheit stellt der „Körper“ nur einen Aspekt dar. Ein umfassendes, ganzheitliches Krankheitskonzept hingegen berücksichtigt mindestens vier Kategorien: Körper, Psyche, Sozialleben und Spiritualität. 

Als Patient mit einer chronischen Lungenerkrankung haben Sie durch die Teilnahme an einer Pneumologischen Rehabilitation, einer Selbsthilfegruppe oder beim Lungensport in der Regel einiges über ein erweitertes Krankheitskonzept erfahren.

Viele von Ihnen erleben immer wieder das untrennbare Wechselspiel zwischen Lunge und Psyche, wie z. B. bei Atemnot und Angst oder bei akuter Verschlechterung (Exazerbation) und depressiver Stimmung. In diesen Situationen kann mit Hilfe von psychopneumologischen Methoden Atemnot „gebändigt“ und die „schwarze Wolke“ der Depression beiseitegeschoben werden.

Glücklicherweise haben auch viele Patienten im Laufe ihrer chronischen Lungenerkrankung ein tragfähiges soziales Netz geknüpft. Dieses Netz kann sich in Pandemiezeiten als besonders hilfreich erweisen. Die Beteiligten kennen einander; sie wissen um die Besonderheiten, die Vorliegen und Abneigungen. Fallstricke können routiniert gemieden werden.

Schutzfaktor 2: Effektive Bewältigungsstrategien

Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen (und ihre „Kümmerer“) werden im Krankheitsverlauf zu sog. Coping(Bewältigungs)-Experten. Manchmal mehr oder minder gezwungen, mitunter aber auch freiwillig engagiert, entwickeln sie individuelle und kreative Bewältigungsstrategien für den Alltag.

Ob einzeln oder gemeinsam, chronische Lungenpatienten können aufgrund ihrer Erfahrung mit der Erkrankung auf effektives Coping zurückgreifen wie z. B. Emotionen regulieren, Gedanken (neu) bewerten und Probleme analysieren.

Schutzfaktor 3: Umgang mit Ungewissheit

Am 21. März 2020 veröffentlichte die Leopoldina* aus gegebenem Anlass eine Ad-hoc-Stellungnahme mit dem Titel: Coronavirus-Pandemie in Deutschland: Herausforderungen und Interventionsmöglichkeiten – nachzulesen auf www.Leopoldina.org.

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* Die Leopoldina ist die älteste naturwissenschaftlich-medizinische Akademie der Welt. Sie wurde 2008 zur Nationalen Akademie der Wissenschaften Deutschlands ernannt. In dieser Funktion hat sie zwei besondere Aufgaben: die Vertretung der deutschen Wissenschaft im Ausland sowie die Beratung von Politik und Öffentlichkeit. Seitdem steht die Leopoldina unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. Sie ist unabhängig und dem Gemeinwohl verpflichtet.

Darin findet sich der bemerkenswerte Satz:

Diese hochdynamische und so noch nicht dagewesene Situation birgt Unsicherheiten und erfordert unkonventionelle Lösungen, deren Auswirkungen und nicht intendierte (beabsichtigte) Nebenwirkungen in ihrer Tragweite größtenteils nicht vollständig antizipiert (vorweggenommen) werden können.“

Der Umgang mit Unsicherheiten stellt für die meisten Menschen eine große Herausforderung dar. Viele Facetten wie z. B. Widersprüchlichkeit, Willkürlichkeit, Komplexität, Unvorhersehbarkeit und Informationsdefizite müssen in einer solchen Situation bewältigt werden. Manche Studien sehen in der Fähigkeit zum Aushalten von Ungewissheit und Widersprüchlichkeit ein Merkmal von Reife und Weisheit.

Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen müssen die Fähigkeit zum Umgang mit Ungewissheit durch die Besonderheiten des Krankheitsverlaufs quasi im „Crash-Kurs“ erwerben. Viele von ihnen entwickeln so – mehr oder weniger freiwillig – ein hohes Maß an Bereitschaft (Akzeptanz) und Gelassenheit.

Fazit

Der Perspektivwechsel auf die Schutzfaktoren zeigt, dass in Zeiten der COVID-19-Pandemie Lungenpatienten aufgrund ihrer Erfahrung, der Bewältigung und dem Umgang MIT der chronischen Erkrankung möglicherweise über stärkere emotionale und soziale Schutzfaktoren, über effektivere Bewältigungsstrategien und über einen besseren Umgang mit Unsicherheiten verfügen als Lungengesunde.

Lungengesunde müssen sich diese Strategien erst mühsam erarbeiten, entdecken oder erproben bzw. erwerben.


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Autorin: Monika Tempel
Ärztin, Autorin, Referentin
Schwerpunkt Psychopneumologie, Regensburg
www.monikatempel.de
www.atemnot-info.de

Bildnachweis:
Philip Steury – AdobeStock
Monika Tempel, Regensburg
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Der Beitrag wurde als Editorial in der Sommerausgabe 2020 der Patienten-Bibliothek – Atemwege und Lunge veröffentlicht.

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