Im Strudel der Unsicherheit

Gemeinsam

AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit

Die fünfte Lebenswoche…
Knapp zwei Jahre nach Geburt unserer Tochter Hilla kam 2003 unser Sohn Enno zur Welt und wir hatten das herrliche Gefühl, nun eine komplette Familie zu sein.

Unser kleiner Säugling hatte lange mit einer Gelbsucht zu tun, was wir Eltern als nichts Besonderes empfanden. Vier Wochen nach Geburt bekam er jedoch plötzlich ohne ersichtlichen Grund Nasenbluten und wir gingen zur Abklärung ins Krankenhaus. Seine Blutgerinnung lag bei dramatischen 6 %, was die Ärzte bei der Vorstellung, der Kleine hätte fallen und innerlich verbluten können, auf den Plan rief.


Es folgte eine nervenzermürbende Woche im Krankenhaus, in der nach und nach verschiedene Krankheiten ausgeschlossen wurden. Nach einigen Tagen erhielten wir die uns völlig unbekannte Diagnose Alpha-1-Antitrypsin-Mangel in homozygoter Form (d.h. mit gleichen mütterlichen und väterlichen Erbanlagen).


Am Ende der fünften Lebenswoche unseres Sohnes stand fest, er müsse baldmöglich an der Leber transplantiert werden – was für ein Schock! Erst die letzte Untersuchung der Gallengänge zeigte, dass es sich nicht um einen derart dramatischen Zustand handelte und aus der anstehenden Transplantation wurde ein: Nehmen Sie das Kind erst einmal mit nach Hause und stellen es in drei Monaten wieder vor.
Gabi Niethammer, September 2018


AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit

Wenngleich die meisten „Alphas“ vor allem unter einer Lungenschädigung leiden, so kann durch den Alpha-1-Antitrypsin-Mangel auch die Leber betroffen sein. Dies ist vor allem bei jüngeren Kindern der Fall: Schätzungsweise jedes zehnte Kind, bei dem beide Erbinformationen für das Eiweiß Alpha-1-Antitrypsin die abnorme Z-Variante aufweisen, zeigt Lebersymptome.

Die gute Nachricht: Oft beschränken sich die Lebersymptome auf eine vorübergehende Gelbsucht im Säuglingsalter und erhöhte Leberwerte und/oder eine vergrößerte Leber im Kindesalter. Nur in sehr seltenen Fällen wird die Leber so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass eine Transplantation in den ersten Lebensjahren erforderlich wird. Ein Screeningprogramm auf Alpha1 (eine automatisch systematische Testung) gibt es derzeit nicht. Bedacht werden sollte, dass eine Gelbsucht bei Neugeborenen viele Ursachen haben kann, die harmloser Natur sind. Die Konzentrationsbestimmung des Schutzeiweißes Alpha-1-Antitrypsin bei längerer Gelbsucht stellt also eine reine Vorsorgemaßnahme dar.

Alpha-1-Antitrypsin-Mangel (AATM) ist zwar eine der häufigsten Erbkrankheiten der Lunge, dennoch bleibt die Erkrankung in den meisten Fällen unerkannt oder wird erst spät diagnostiziert. Am häufigsten erhalten Betroffene im Erwachsenenalter die Diagnose Lungenemphysem, mit dem Oberbegriff COPD (chronisch obstruktiven Lungenerkrankung). COPD wird vor allem durch langjähriges Rauchen erworben. Häufig wird dabei allerdings übersehen, dass ein Lungenemphysem auch genetisch durch einen AATM entstanden sein kann (weitere Informationen zu AATM finden Sie im nachstehenden Kasten).

Gabi Niethammer (53) ist 2. Vorsitzende von Alpha1 Deutschland e.V. und lebt mit ihrer Familie, Ehemann Martin (55) und den beiden Kindern Hilla (19) und Enno (17) in Hamburg

Frau Niethammer, Sie haben eine dramatische Zeit nach der Geburt Ihres Sohnes erlebt. Was hat Ihnen/Ihrer Familien in dieser Situation und im Umgang damit geholfen?

Als wir mit Enno das Krankenhaus verließen, waren wir zutiefst verunsichert. Gegen den Rat vieler begannen wir im Internet nach Antworten zu suchen und fanden vor allem schockierende Zahlen zu Krankheitsprognosen und Lebenserwartung.

Auch das natürliche „Bauchgefühl“, wann es meinem Kind gut geht und wann nicht, so wie ich es bei unserer Tochter Hilla erlebt hatte, wollte sich bei Enno nicht einstellen, zumal er anfangs wirklich ein äußerst winziges und zartes Kind war.

Bereits jedes einzelne Husten löste eine emotionale Achterbahn und hektische Aktivitäten aus. Tatsächlich stellten sich im Laufe der Zeit zahlreiche Infekte ein, darunter einige schwerwiegendere und auch eine Lungenentzündung. Später kamen einige Ohrentzündungen hinzu. Doch letztendlich ist nie wirklich etwas Schlimmes passiert.

Die ersten Jahre waren vor allem von Angst, Sorge und Unsicherheit geprägt. Dieser „Knoten“ löste sich erst langsam, nachdem wir zwei Jahre später aufgrund einer Anzeige im Hamburger Abendblatt auf eine Veranstaltung von Alpha1 Deutschland e.V. aufmerksam wurden und mit anderen Betroffenen in Kontakt kamen. Die dort gebündelten Fachinformationen, die persönlichen Gespräche und der Austausch von Erfahrungen gaben uns im Laufe der nächsten Jahre langsam das notwendige Sicherheitsgefühl zurück, im Umgang mit der Erkrankung unseres Sohnes keine fatalen Fehler zu machen. .

Wie hat Alpha1 Sie als Familie geprägt, auch im Hinblick auf den Umgang mit Ängsten?

Ich kann heute sagen, dass die Familienkonstellation durch Alpha1 eine Besondere geworden ist. Bedingt durch die Unsicherheit und die Ängste hat Enno in unserer vierköpfigen Familie über viele Jahre den größten Raum eingenommen. Das „Sich-unsicher-fühlen“, hat etwas mit uns „gemacht“, was zu Verschiebungen, Konzentrationen in der Aufmerksamkeit geführt hat, die es sonst wahrscheinlich nicht gegeben hätte.

Gerade die ersten etwa sieben Jahre bis zur Ausreifung des Immunsystems waren eine aufreibende, turbulente Zeit, die uns gefordert hat und in der wir uns als Eltern keineswegs immer über alle Schritte einig waren.

Entscheidend war, dass wir immer miteinander reden konnten – wenngleich auch manchmal mit einer gehörigen Portion Temperament – und gemeinsame Wege fanden. Aus dieser angespannten Lebenssituation ist etwas Gutes erwachsen: eine tolle Familie.

Enno ist inzwischen 17 Jahre alt. Wie geht es ihm heute und wie geht er mit der Erkrankung um?

Einige Jahre wurde Enno medikamentös behandelt, die Therapie konnte dann im Alter von etwa 11 Jahren abgesetzt werden, da sich die Leberwerte normalisiert haben. Unserem Sohn geht es sehr gut und er ist tatsächlich bei Erkältungen in der Familie derjenige, der am wenigsten davon abbekommt. Über seine Erkrankung informiert war Enno immer, Fragen wurden, so gut es ging, beantwortet. Präventive Möglichkeiten wie z. B. Impfungen, Maßnahmen des persönlichen Lebensstils, die Notwendigkeit von ärztlichen Kontrollterminen sind ihm bestens bekannt.

Vor einiger Zeit machte mich ein Kinderarzt richtigerweise darauf aufmerksam, dass es nun an der Zeit sei, Enno die Verantwortung für seine Erkrankung zu übergeben, denn er müsse sein Leben mit der Erkrankung selbst gestalten.

AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit
Enno hat sein Leben selbst in die Hand genommen.

Tischler zu werden war sein Berufsziel. Seine Auseinandersetzung mit diesem Thema war nicht leicht, denn den feinen Holzstäuben, die die Lunge zusätzlich belasten würden, auszuweichen, ist als Tischler kaum möglich. Nun hat Enno eine Ausbildung in einem metallverarbeitenden Handwerksbetrieb begonnen, was seinem Wunschberuf sehr nahe kommt. Die Vermeidung von Feinstäuben lässt sich in diesem Handwerk deutlich einfacher realisieren. Auf seinen Ausbilder ist er offensiv zugegangen und hat ihn über seine Erkrankung sowie die notwendigen Schutzmaßnahmen informiert.    

Was ist Ihnen besonders wichtig, anderen Familien in ähnlichen Situationen zu vermitteln?

Wir waren am Anfang viel zu sehr in der eigenen Emotionalität und der Fokussierung auf das Unbekannte gefangen, sodass wir lange Zeit nicht einmal auf die Idee gekommen sind, nach Fachkompetenz zu suchen. Diese Situation möchte ich anderen Eltern gerne ersparen.

Nehmen Sie nach der Diagnose nicht den angstmachenden Umweg über das Internet, den wir genommen haben, sondern suchen Sie möglichst schnell vertrauensvolle, kompetente Hilfe.

Es stehen Ihnen heute bundesweit Fachärzte und Zentren mit einer Spezialisierung auf einen Alpha-1-Antitrypsin-Mangel und ebenso die Selbsthilfegruppen von Alpha1 Deutschland e.V. www.alpha1-deutschland.org beratend zur Verfügung.

Wer informiert ist, gewinnt Sicherheit und kämpft nicht gegen einen unbekannten Feind. Jede informierte Mutter, jeder informierte Vater kann die Erkrankung besser einordnen und dadurch zu einem Teil des Lebens, ja manchmal sogar zur Nebensache, werden lassen.

Übrigens: Natürlich ließen wir unsere ganze Familie auf einen Alpha-1-Antitrypsin-Mangel testen. Erwartungsgemäß waren wir Eltern zwar Träger des Alpha1-Gens, glücklicherweise nur mit einem Allel, sodass die Erkrankung nicht zum Ausbruch kommt. Das hätte noch gefehlt, insbesondere da mein Mann seit vielen Jahren rauchte und die Auswirkungen vielleicht schon verheerend gewesen wären. Prompt nahm er die Testung zum Anlass, die geliebten Selbstgedrehten für immer wegzuwerfen. Auch unsere Tochter Hilla ist Trägerin des Gens – ganz ohne das leidige „Z“-Allel scheint es bei uns nicht zu gehen.

AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit

Alpha-1-Antitrypsin-Mangel
Alpha-1-Antitrypsin (AAT) ist ein körpereigenes Eiweiß (Protein), das vorwiegend in den Zellen der Leber gebildet wird. Von dort gelangt AAT in den Blutkreislauf und ist praktisch in allen Körpergeweben vorhanden.

AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit

Innerhalb der Stoffwechselprozesse kann AAT als ein wichtiger „Gegenspieler“ (Proteinaseninhibitor = PI oder Pi) von körpereigenen Enzymen (Proteasen) betrachtet werden.

Enzyme werden bei entzündlichen Prozessen und chronischen Reizzuständen vermehrt gebildet, um Fremdsubstanzen, z. B. Bakterien oder Schadstoffpartikel, zu zerstören. Da Enzyme jedoch nicht zwischen Fremdsubstanzen und körpereigenem Gewebe unterscheiden können, besteht die Aufgabe von AAT darin, als eine Art molekulares Schutzschild zu fungieren.

AAT wird daher auch als „Schutzeiweiß“ bezeichnet – es inaktiviert die überschüssigen Proteasen.

Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde der Alpha-1-Antitrypsin-Mangel 1963 von schwedischen Forschern. Die eindeutig häufigste Auswirkung eines AAT-Mangels ist eine Erkrankung der Lunge, was sich meistens im mittleren Alter von etwa 35-40 Jahren äußert. Erkrankungen der Leber sind die zweithäufigste Auswirkung – Säuglinge, Kinder und Erwachsene ab dem 40. Lebensjahr sind besonders betroffen.

Wissenschaftler empfehlen eine nur einmal notwendige Testung auf AAT bei jedem COPD/Lungenemphysem-Patienten und bei jeder Leberschädigung. Bereits wenige Tropfen Blut reichen aus.  Informieren Sie sich!


AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit

Alpha1 Deutschland e.V. Gesellschaft für Alpha-1-Antitrypsin-Mangel-Erkrankte
Alte Landstraße 3, 64579 Gernsheim
Kostenlose Servicenummer 0800 – 5894662
info@alpha1-deutschland.org, www.alpha1-deutschland.org

AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit

Alpha-1-Center
Die Alpha-1-Center sind Beratungs- und Behandlungsstellen für Ärzte, Betroffene und Angehörige. Sie agieren in pneumologischen Fragen zum Alpha-1-Antitrysin-Mangel in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt. Die über ganz Deutschland verteilten Alpha-1-Center bilden somit eine Schnittstelle zwischen Ärzten in Klinik und Praxis und dem Alpha-1-Labor in Marburg sowie Alpha-1-Register in Homburg/Saar und stellen ihr umfassendes und stets aktuelles Fachwissen zur Verfügung. Derzeit gibt es neben 55 Erwachsenen-Centern auch neun Kinder-Center in Deutschland.
www.alpha-1-center.org


AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit

Alpha1 Kinderbuch

Das Kinderbuch kann kostenfrei mittels Bestellformular über Alpha1 Deutschland e.V. – www.alpha1-deutschland.org – bestellt werden. Spenden für eine weitere Neuauflage sind herzlich willkommen.


Text: Sabine Habicht, Redaktionsleitung Patienten-Bibliothek

Fotos: Gabi Niethammer, Hamburg, Fotolia.com Pulfer Fotografie, München, Barbara Klemm

AdobeStock_287686418-9dreamstudio2-603x1024 Im Strudel der Unsicherheit

Der Beitrag wurde in der Winterausgabe 2019 der Fachzeitschrift „Patienten-Bibliothek – Atemwege und Lunge“ veröffentlicht.

Schreibe einen Kommentar