Die Zukunft findet früher statt

Selbsthilfe: Eine neue Form von Nähe

Als Heilerziehungpflegerin und später als Erzieherin hat Annette Hendl (57) aus Oberbayern mehr als 30 Jahre mit Schwerstbehinderten zusammengearbeitet. Jahre, die sie geprägt haben. Diese Erfahrungen haben ihr bei der Diagnosestellung und insbesondere im weiteren Verlauf der Erkrankungen Asthma und COPD geholfen, die damit einhergehenden Veränderungen dennoch positiv und die sich einstellenden Ängste relativiert zu betrachten.

Annette-Hendl-snapshot2-1024x782 Die Zukunft findet früher statt

Die notwendige Langzeit-Sauerstofftherapie wurde Teil des täglichen Lebens, ebenso das Engagement als Vorstandsmitglied der Deutschen Sauerstoff- und BeatmungsLiga LOT e.V. sowie ihre Aktivitäten als Gruppenleiterin.

Im Gespräch mit der Redaktion über die Veränderungen und die neuen Anforderungen, die das Coronavirus auch für die Selbsthilfe bedeutet, ermöglicht uns Annette Hendl zunächst einen ganz anderen Einblick: eine Darstellung der Situation ihrer schwerstbehinderten 22-jährigen Pflegetochter. Tina wohnt in einem Erwachsenenwohnheim mit Arbeitsanschluss. Zur Vermeidung von Infektionen, kann derzeit weder der Arbeit nachgegangen noch könnrn persönliche Kontakte gepflegt werden. Obwohl der persönliche Kontakt und insbesondere die menschliche Nähe gerade für Schwerstbehinderte außerordentlich wichtig sind. Nicht einmal die beste Versorgung, kann Nähe ersetzen. „Diesen Umstand zu erklären, warum wir uns nicht besuchen können, ist äußerst schwierig. Die Situation, auch für mich als Mutter, kaum auszuhalten.“

Pakete werden geschnürt, reihum von jedem Familienmitglied, mit vielen kleinen Nettigkeiten, mal etwas zum Malen, mal ein Puzzle. Die Gefühlsleere aber kann auch damit nicht ganz ausgefüllt werden.

„Ein Handy als Geschenk zu Ostern bedeutete ein Quantensprung.“ Im Gegensatz zum Schnurtelefon im Betreuerzimmer ist nun Rückzug und Spontanität möglich geworden. „Auch das SMS-Schreiben hat Tina für sich entdeckt. Eine neue Erfahrung, die zu einem positiven Entwicklungsschub in den letzten Wochen beigetragen hat. Nachrichten versenden, wann immer sie mag. Ein bisschen fühlen, dass der andere an einen denkt. Eben eine andere Form der Nähe, die jedoch allen gut tut und ein bisschen über die Situation hinweg hilft.“

Welche Maßnahmen hat die Deutsche Sauerstoff- und BeatmungsLiga LOT e.V. ergriffen?

Unsere Beratungseinheiten wurden bereits im März deutlich erhöht. Jetzt werden täglich, sieben Tage die Woche, telefonische Beratungen angeboten (siehe Kasten). Auch der Internetchat unter Moderation der Ehrenvorsitzenden Ursula Krütt-Bockemühl wurde von bisher einmal wöchentlich auf eine Stunde täglich erweitert. Er ist über die Internetseite www.sauerstoffliga.de erreichbar, eine Anmeldung/Registrierung ist für den Chat erforderlich. An dieser Stelle ist es mir wichtig, ein herzliches Dankeschön an alle aktiven Gruppenleiter auszusprechen, die sich für die Beratungsangebote, die sehr gut angenommen werden, engagieren – denn für uns Risikopatienten und Angehörige ist die Corona-Krise noch lange nicht vorbei.

Bereits frühzeitig haben wir den jährlich stattfindenden Workshop anlässlich des Kolloquiums in Bad Reichenhall, der wie gewohnt im Juni stattfinden sollte, abgesagt. Dennoch wird die Veranstaltung realisiert, nur in einer neuen Form, erstmals als Webinar – d.h. als Fortbildung per Internet. Die Gespräche mit den entsprechenden Anbietern laufen bereits. Nähere Informationen zur Teilnahme am Webinar werden über die Internetseite www.sauerstoffliga.de bekannt gegeben.   

Ein richtiger Schritt in die Zukunft und eine Entwicklung hin zur digitalen Technik, die bedingt durch Corona, nun früher stattfindet als gedacht.

Als bundesweit tätiger Verband haben in der Vergangenheit bei überregionalen Veranstaltungen die weiten Distanzen bei überregionalen Veranstaltungen eine Teilnahme von so manchem Mitglied verhindert. Die Anreise wäre zu beschwerlich gewesen. Nun kann jeder, der über einen PC, ein Tablet oder ein Smartphone verfügt, an dem Webinar teilzunehmen und zwar in aktiver Form, denn auch Fragen können gestellt werden.

Und die Planungen gehen weiter. Der jährliche Patientenkongress im September dieses Jahres soll ebenfalls als Webinar durchgeführt werden. Leider ist es uns technisch nicht möglich, auf diese Art auch die Mitgliederversammlung abzuhalten, da nicht sichergestellt werden kann, dass keine Nichtmitglieder anwesend sind.

Wie findet derzeit Hilfe zur Selbsthilfe in den Selbsthilfegruppen statt?

In manchen Gruppen werden die technischen Möglichkeiten zur Kontaktpflege ebenfalls eingesetzt, beispielsweise, indem sich Gruppenmitglieder über WhatsApp vernetzen.

Ganz klar muss jedoch formuliert werden, dass es sich hierbei um eine deutliche Minderheit handelt. In unserer Gruppe in Mühldorf mit 45 Teilnehmern haben beispielsweise sechs Mitglieder ein Handy und drei einen Internetzugang. Hier spiegelt sich die derzeitige Realität wider.

Um den Kontakt zu halten und den Austausch zu pflegen, müssen daher zusätzlich andere Wege beschritten werden. Als Gruppenleiterin suche ich etwa alle zwei Wochen das Gespräch und rufe an, einmal im Monat versende ich zudem Briefe, teile Neuigkeiten mit und füge Informationsmaterial wie z. B. die Zeitschrift Patienten-Bibliothek – Atemwege bei.

Der Vorteil ist natürlich, dass ich alle Gruppenmitglieder kenne und um die Besonderheiten des Einzelnen weiß. So hat man sich über den Weg des Telefons immer viel zu erzählen und auch die Herstellung einer gewissen Nähe ist möglich. Ich merke, dass jeder auf seine Weise kreativ wird und versucht, sich mit den Mitteln, die er hat und der aktuellen Situation zu arrangieren und auch im Miteinander einen Beitrag leistet. Eine gegenseitige höhere Aufmerksamkeit füreinander ist spürbar, ein Interesse, wie es dem anderen geht und was er benötigt. Schön, wenn dieser Effekt in einer Kontinuität mündet.

Welche Sorgen und Nöte stehen in den Gesprächen des allgemeinen und für jeden zugänglichen Beratungstelefons insbesondere im Vordergrund?

Neben den ganz spezifischen Fragen, bei denen es um Themen rund um Lungenerkrankungen, Sauerstoffversorgung etc. geht und wir meist konkrete Antworten geben können, stehen vor allem Versorgungsfragen im Vordergrund.

Viele Menschen leben in unserer Gesellschaft allein. In einem Hochhaus, als typischem Beispiel, wissen die Meisten oft nicht einmal, wie ihr unmittelbarer Nachbar heißt. Jeder lebt für sich allein, die älteren Menschen noch mehr als die jüngeren. Doch jetzt stellt das ein Problem dar und bereitet Sorgen.

Bei der Frage, was man tun kann, wenn man beispielsweise umfällt und hilflos liegen bleibt, mag noch der Hinweis auf ein einzurichtendes Notrufsystem helfen. Im Hinblick auf das Alleinsein an sich, haben wir jedoch nur die Möglichkeit zuzuhören, ohne direkte Lösungen anbieten zu können.

Ich denke, als Gesellschaft sollten wir die Chance dieser Zeit, die Möglichkeit des Innehaltens nutzen. Etwas, was bereits im Kleinen, eben bei den Nachbarn, beginnen kann. Indem wir den, den wir sonst gar nicht wahrgenommen haben, anfangen zu grüßen und vielleicht auch ein paar Worte wechseln. Und dabei bemerken, dass auch wir selbst eine Aufmerksamkeit und sogar ein Lächeln zurückbekommen.

Ich würde mir wünschen, dass wir alle miteinander mehr Toleranz üben und aus der Oberflächlichkeit herausfinden, indem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren.

Es ist Zeit, neue Perspektiven zu entdecken und den Blick nicht zurück, sondern nach vorne zu richten.


Deutsche Sauerstoff- und BeatmungsLiga LOT e.V.

Tägliche telefonische Beratung
für Atemwegs- und Lungenpatienten sowie Angehörige

Montag, Mittwoch, Freitag
Annette Hendl   
09.00-12.00 Uhr
08071 – 7289511
—————————————
Montag, Mittwoch, Freitag    
Margrit Selle                                    
15.00-17.00 Uhr
04207 – 9092243
—————————————
Dienstag, Donnerstag    
Ursula Krütt-Bockemühl                                          
09.00-12.00 Uhr
0821 – 783291
—————————————
Samstag
Edda Kulpe
09.00-12.00 Uhr
0561 – 5297651
—————————————
Sonntag
Evi Praetorius
14.30-17.30 Uhr
089 – 184502

Wir möchten ausdrücklich darum bitten, dass die angegebenen Telefonzeiten eingehalten werden, da es sich bei den Telefonnummern um Privatanschlüsse handelt und diese nicht den ganzen Tag zur Verfügung stehen.


Bildnachweis:
Annette Hendl,
tinyakov – AdobeStock

Interview/Text:
Sabine Habicht, Redaktionsleitung Patienten-Bibliothek

Der Beitrag wurde in der Sommerausgabe 2020 der Zeitschrift Patienten-Bibliothek – Atemwege und Lunge veröffentlicht.

Annette-Hendl-snapshot2-1024x782 Die Zukunft findet früher statt

Schreibe einen Kommentar