Die Psyche in der Corona-Krise

Ein Kompass für die Krisennavigation

Die aktuelle Krise führt zu einer ganzen Reihe von Veränderungen, wie dem Arbeiten im Home-Office, der Kurzarbeit, Schulschließungen oder der Abstandsregelung, die unsere psychische Widerstandsfähigkeit (auch als Resilienz bezeichnet) auf eine harte Probe stellen können. Diese Veränderungen sind wie ein Sturm auf offener See über uns hereingebrochen, wir haben sie weder so gewollt, noch kommen sehen.

So ist es kaum verwunderlich, dass viele Menschen im Moment deutlich die Auswirkungen der Krise auf ihre Psyche spüren: Beispielsweise ist da diese Ungewissheit, wie lange die Krise noch andauern wird (Wochen, Monate oder sogar Jahre?) und ob noch weitere Pandemiewellen mit erneutem Lockdown folgen werden. Auch Ängste sind da, vor einer Ansteckung mit dem Virus, vor einem schweren Krankheitsverlauf, vor Folgeschäden für die Lunge, vor dem Tod, vor dem Verlust geliebter Menschen, aber auch vor den wirtschaftlichen und den sozialen Folgen der Krise.

Wie das Virus selbst ist unser durch die Pandemie verursachter Stress mit bloßem Auge nicht sichtbar, aber dennoch präsent. Er äußert sich bei jedem Menschen individuell: Während der eine vielleicht ein unterschwelliges Gefühl innerer Unruhe oder Reizbarkeit in sich trägt, fühlt sich ein anderer “emotional dünnhäutig” oder sogar “aus der Bahn geworfen”. Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und fühlen wertungsfrei in sich hinein, was Sie in diesem Moment bei sich selbst spüren.

Falls Sie seit einiger Zeit unter Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit, Leistungs-minderung, Energiemangel, Müdigkeit, vermehrten Kopfschmerzen, Verdauungsproblemen, Appetitveränderungen oder Schlafstörungen leiden, kann dies auf den Stress der Krise zurückzuführen sein.

Unser Gehirn besitzt bemerkenswerte Fähigkeiten, sich an Veränderungen der Außenwelt anzupassen. Möglicherweise träumen Sie derzeit intensiver als sonst – ein Versuch Ihres Gehirns, emotionale Belastungen zu verarbeiten und die “neue Normalität” in Ihr bestehendes inneres Bild der Wirklichkeit zu integrieren. Sie können diese Verarbeitungsprozesse unterstützen, indem Sie abends zeitiger zu Bett gehen und morgens, falls möglich, zu einem für Sie natürlichen Zeitpunkt aufwachen (ohne Wecker).

Manchmal reichen jedoch die psychischen Selbstheilungskräfte nicht aus, um das Erlebte zu verarbeiten. Wie die Pandemieforschung zeigt, kann es dann zu längerfristigen psychischen Nachwirkungen (z.B. Traumafolgestörungen) kommen. In diesem Fall kann eine Psychotherapie weiterhelfen.

Wissenschaftliche Studien auf dem Gebiet der Psychoneuroimmunologie zeigen, dass anhaltender Stress, Angstzustände und andere negative Emotionen die Funktionen unseres Immunsystems erheblich beeinträchtigen können und damit unsere Anfälligkeit für Krankheiten und Infektionen (z.B. mit dem Coronavirus) erhöhen. Wie kommen wir mental stark durch die Krise?

Mental stark durch die Krise

Das Fernglas beiseite legen

2-AdobeStock_129332354-Peter-Atkins-Fernglas-1-1024x708 Die Psyche in der Corona-Krise

Das Corona-Thema ist durch die Medien omnipräsent, wir können ihm kaum entfliehen. Wie durch ein Fernglas betrachtet, wird das Thema aus der Ferne in unser Bewusstsein herangeholt, als würde sich die Gefahr unmittelbar vor uns befinden. Das führt bei manchen Menschen dazu, dass sie in eine Art ‘Katastrophen-Trance’ verfallen, nicht mehr abschalten können und sich unentwegt mit dem Thema beschäftigen.

Medien nutzen oft reißerische Überschriften mit Buzz-Wörtern, die daraufhin konzipiert sind, automatische emotionale Reaktionen in unserem Gehirn hervorzurufen, damit wir den zugehörigen Artikel lesen oder das jeweilige Video klicken. Das kann unser Gehirn in einen Alarmmodus versetzen und den Körper mit Stresshormonen fluten.

Wenn Sie das Fernglas beiseitelegen und Ihren Corona-Medienkonsum auf ca. 20 Minuten täglich reduzieren, werden Sie sich entspannter fühlen. Gehen Sie kritisch mit den Informationen um, denn zurzeit finden Verschwörungstheorien, Fake News und falsch interpretierte wissen­schaftliche Ergebnisse eine weite Verbreitung.

Versuchen Sie, CoVid-19 nicht zum alleinigen Unterhaltungsthema zu erheben. Während das Reden über die eigenen Gefühle mit nahestehenden Menschen emotional befreiend wirkt, ist eine einseitige Schwarzmalerei der Situation, dem seelischen Wohlbefinden eher hinderlich.

Das Ruder wieder übernehmen

Es gibt Dinge, die liegen außerhalb unserer Kontrolle, wie ein Sturm oder die globale Pandemie. Während wir diese Dinge selbst nicht ändern können, können wir dennoch durch unsere Ein­stellungen und Verhaltensweisen kontrollieren, wie wir mit diesen Dingen umgehen. So können wir beispielsweise das Infektionsrisiko für uns und für andere durch umsichtiges Verhalten wie Tragen einer Atemmaske, Händewaschen, Abstand halten oder virtuelle Meetings minimieren.  

Wenn wir durch etwas aus der Bahn geworfen werden, neigen wir manchmal dazu, in eine Opferrolle zu verfallen. Dann fühlen wir uns wie ein Spielball schicksalhafter äußerer Mächte und im Grunde genommen machtlos. Falls Sie sich im Hinblick auf die Krise gerade so fühlen, dann ist es wichtig, dass Sie Ihre Selbstwirksamkeit stärken. Selbstwirksamkeit ist nach dem Psychologen Albert Bandura die Überzeugung, die Herausforderungen des Lebens, zu denen auch diese Krise zählt, aus eigener Kraft meistern zu können oder anders formuliert: sich zuzutrauen, durch aktives Handeln positive Veränderungen bewirken zu können.

Sie können Ihre Selbstwirksamkeit trainieren, indem Sie sich täglich gezielt eine neue Herausforderung setzen, die für Sie zwar mit etwas Anstrengung verbunden, aber dennoch realistisch erreichbar ist. Durch den Erfolg beim Erreichen des Zieles wächst Ihre Zuversicht in Ihre eigenen Fähigkeiten mit jedem Tag.

Entspannt durch den Sturm navigieren

Den Wellen der negativen Gefühle, die die Pandemie und die Krise bei uns verursachen, können wir mithilfe von Achtsamkeit begegnen. Nach Jon Kabat-Zinn, dem Pionier der Achtsamkeits­forschung, ist Achtsamkeit die absichtsvolle, wertungsfreie Lenkung der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick.  

Viele der Ängste und Sorgen, die wir uns täglich machen, betreffen abstrakte Zukunftsszenarien. Wir “katastrophisieren” etwas, indem wir den schlimmstmöglichen Ausgang für uns befürchten, dessen Eintreffen aber eher unwahrscheinlich ist. Durch die Filter unserer Gedanken kreieren wir unsere Gefühle, und unser Gehirn reagiert mit einer Kaskade von Stressreaktionen, wie bei einer realen Bedrohung.

Es hilft, sich dessen bewusst zu werden, dass im Hier und Jetzt meist keine unmittelbare Gefahr für unser Leben besteht: Lenken Sie dazu Ihren Fokus auf den gegenwärtigen Augenblick, sehen Sie sich um, und stellen Sie fest, dass Ihnen jetzt gerade keine tatsächliche Lebensgefahr droht. Entspannen Sie daraufhin bewusst für etwa 5 Sekunden alle Muskeln Ihres Körpers und atmen Sie einige Atemzüge langsam tief in den Bauch ein und wieder aus. Je öfter Sie diese Achtsamkeitsübung praktizieren, desto leichter wird es Ihnen fallen, sich nicht mehr in den Sorgen um die Zukunft zu verlieren.

Achtsamkeit beinhaltet auch das wohlwollende Gewahrwerden dessen, was in unserem Geist vorgeht, z.B. unserer Gedanken. Wir können uns dessen bewusstwerden, dass wir bestimmte Gedanken haben, ohne uns gleich mit ihnen zu identifizieren oder von ihnen mitreißen zu lassen. Das geschieht dadurch, dass wir feststellen, dass es einen Teil unseres Bewusstseins gibt, der das, was in uns vorgeht, zu jeder Zeit neutral beobachten kann.

Stellen Sie sich Ihren Geist als einen Bahnhofvor, durch den die Gedanken als Zügefahren. Sie würden in einem Bahnhof doch auch nicht gleich in jeden beliebigen Zug einsteigen, ohne vorher zu schauen, wohin er fährt?

Beobachten Sie das Kommen und Gehen Ihrer Gedanken wertungsfrei, wie die Züge im Bahnhof beim Ein- und Ausfahren, und wählen Sie bewusst aus, welchen Zug Sie nehmen möchten.

Die Segel setzen – wohin darf die Reise gehen?

2-AdobeStock_129332354-Peter-Atkins-Fernglas-1-1024x708 Die Psyche in der Corona-Krise

Sie können die Krise als Chance nutzen, um Ihre Segel auf neuen Kurs zu setzen. Vielleicht erleben Sie derzeit eine Entschleunigung Ihres Alltags, der Ihnen die Zeit und die Möglichkeit gibt, Ihr aktuelles Leben zu reflektieren. In einer Krise kann vieles wegbrechen, was wir bisher als selbstverständlich erachtet hatten. Dies wiederum lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das, was uns wirklich wichtig ist.

Was ist Ihnen wichtig im Leben?

• Was zählt für Sie? Was erfüllt Sie mit Sinn?

• Was brauchen Sie, um glücklich zu sein?

• Welche Lebensträume, Visionen oder Ziele haben Sie?

• Was macht Ihnen Spaß oder erfüllt Sie mit Freude?

• Welche negativen Verhaltensweisen möchten Sie vielleicht durch gesunde Verhaltensmuster ersetzen?

• Was in Ihrem Leben darf so bleiben wie es ist, was darf sich verändern?

Bringen Sie mehr Leichtigkeit in Ihren Alltag und in das tägliche Erreichen Ihrer Ziele, indem Sie beispielsweise die Phrase “ich muss” aus Ihrem Wortschatz streichen und durch “ich kann” austauschen. Das ersetzt das negative Gefühl, fremdbestimmt zu sein, durch ein Gefühl der freien Entscheidung Ihrerseits.

Auch große Ziele lassen sich bewältigen, indem Sie sie in kleine und leicht zu erreichende Ziele herunterbrechen, die Sie dann konsequent in Ihren Alltag integrieren. Nehmen wir an, Sie möchten z.B. ein Buch schreiben. Ein ganzes Buch zu schreiben, erscheint wie eine unüberwindbare Hürde. Wenn Sie jedoch jeden Tag nur eine oder zwei Seite(n) schreiben (was nicht besonders schwerfällt), wird Ihr Buch irgendwann mit Leichtigkeit fertig. Dieses Prinzip können Sie auch auf viele andere Ziele übertragen, wie zum Beispiel auf den Sport oder die gesunde Ernährung. Das Erreichen bereits einiger solcher kleinen Ziele am Tag wird Ihnen das Gefühl geben, auf dem richtigen Kurs zu sein.

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Autorin: Marina Winkler, MSc
Leitende Psychologin der Nordseeklinik Westfalen, Föhr
Doktorandin der Psychologie und Neurowissenschaften
www.nordseeklinik.online



Bildnachweis:
Peter Atkins, alzay, nerthuz – alle AdobeStock
Nordseeklinik Westfalen, Wyk auf Föhr

Der Beitrag wurde in der Sommerausgabe 2020 der Patienten-Bibliothek – Atemwege und Lunge veröffentlicht.

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